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Es war einmal eine Pflanze, die nicht wusste, was genau sie sein wollte. Wie schön wäre es doch eine Palme zu sein, die sich im Sommerwind wiegte und den freien Blick aufs Meer hätte. Oder sollte sie doch lieber eine Margerite auf einer Sommerwiese sein? Oder eine Kornblume? War sie dazu bestimmt, eine Ähre im Kornfeld zu sein oder ein Buchsbaum, den die Menschen in ihren Vorgärten beliebig in Form schnitten? |
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Sie entschied sich schließlich dafür, ein kräftiger, schöner Rosenstrauch zu sein. Der Rosenstrauch blühte viele Jahre, und die Pflanze war es zufrieden. Dann jedoch kamen eines Tages die Bulldozer, die genau an der Stelle, an der der Rosenstrauch stand, anfingen eine Straße zu bauen. |
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Da rollte sich der Rosenstrauch in den Straßengraben und wurde zu einer stachligen Distel am Wegesrand. Die Distel wurde ganz staubig, und manchmal warfen die Leute auch ihren Müll in den Straßengraben, direkt neben die Distel. Nach einer Weile fing die Distel an zu träumen, dass sie doch gerne eine bessere Aussicht hätte als sie ihr der Straßengraben bot. Auch wollte sie dem Himmel gern näher sein. |
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Da machte sie sich auf den Weg und rollte eine Weile durch karges Land, bis sie schließlich zu einer mächtigen Buche gelangte. Sie fragte die Buche höflich, ob sie sich vielleicht als Efeu an ihrem Stamm hochranken könne, denn sie hätte gerne eine schöne Aussicht und würde auch gerne dem Himmel näher sein. Die Buche hatte gerade ihren großzügigen Tag und erhob keine Einwände, und so rankte sich der Efeu am Stamm der Buche immer höher, bis er schließlich die Baumkrone erreichte. Der Ausblick war wunderschön, und der Efeu genoss sein neues Leben. |
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Eines Tages jedoch sagte die Buche: „He, Efeu. Jetzt reicht es mir aber allmählich. Wenn Du so weiter wächst, dann erstickst Du mich.“ Da meinte der Efeu kleinlaut: „Aber ich habe eine so schöne Aussicht von hier, und ich kann sogar das Meer sehen und bin dem Himmel so nahe.“ Aber die Buche antwortete: „Dann werde doch selber ein Baum. Hier jedenfalls kannst Du nicht mehr länger bleiben.“ Da rollte sich der Efeu betrübt ein und verdorrte am Fuße der mächtigen Buche. |
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Als kaum noch Leben in dem Efeu war, erinnerte er sich daran, dass er ja auch schon mal ein schöner Rosenstrauch gewesen war, viele Jahre lang, und als er noch eine ganz junge Pflanze war, auch mal eine Krüppelkiefer. Da rollte er sich mit letzter Kraft auf ein Feld, das sich nicht weit von der mächtigen Buche befand. Dort lag er eine Weile und beklagte sein Schicksal. Dann jedoch steckte er seufzend seine Wurzeln in den Boden, und über kurze Zeit wurde er zu einem kleinen Apfelbaum. Der Apfelbaum wuchs und wuchs und erreichte eine für Apfelbäume beachtliche Höhe. Im Frühjahr blühte er so wunderbar, dass die Leute stehen blieben und voller Bewunderung ausriefen: „Ist das nicht ein schöner Baum?“ Wenn er sich ein bisschen reckte, konnte der Apfelbaum das Meer sehen, und er fühlte sich dem Himmel ganz nahe. Seine Wurzeln waren fest in der Erde verankert. Unzählige Singvögel nisteten auf dem Apfelbaum, und im Frühjahr gab es ein Summen und Gezwitscher, dass es eine Pracht war. Manchmal machten Liebespaare im Sommer Picknick unter dem prächtigen Apfelbaum, dann ließ er seine Blüten auf die Liebenden fallen. Im Herbst trug der Apfelbaum die schönsten Früchte. Dann kamen die Kinder und sammelten die Äpfel auf. Die brachten sie nach Hause, und ihre Mütter kochten Mus aus den Äpfeln. Im Winter hatten dann die Kinder und auch die Erwachsenen immer etwas Gutes zu essen. So kamen sie sicher über die karge Jahreszeit. |
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Die Buche hatte das Wachsen des Apfelbaumes aufmerksam verfolgt und wohlgefällig betrachtet, wie der Apfelbaum immer schöner wurde. |
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Eines Tages jedoch ging ein mächtiges Gewitter auf die Erde nieder, das den Apfelbaum entwurzelte. Da lag er nun und konnte sich nicht mehr aufrichten. Ob er nun wohl vermodern würde, fragte er sich ganz traurig. Da kamen die Gärtner und bauten eine Stütze für den Apfelbaum, denn es wäre schade gewesen, wenn man den Apfelbaum hätte zersägen müssen, denn er blühte so wunderbar im Frühjahr und trug im Herbst die schönsten Früchte. So stand der Apfelbaum denn mühsam wieder auf und lehnte sich auf das Holzgerüst, das ihn stützte. Er war froh, dass er wieder aufrecht stand, aber manchmal seufzte er doch still vor sich hin und Tränen liefen an seinem Stamm herab in die Erde, denn es gefiel ihm gar nicht, dass er nicht frei stehen konnte. Auch war es ihm gegenüber der Buche recht peinlich, wie er da so abgestützt stand, als sei er schon ein ganz alter, morscher Apfelbaum. |
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Die Buche wiegte sich im Winde. Nur manchmal blinzelte sie zum Apfelbaum herüber. Dann wurde die Buche ein bisschen traurig darüber, dass der Apfelbaum nicht mehr alleine stehen konnte und vielleicht doch bald abgeholzt werden müsse. Denn die Buche fand es sehr schön einen so prächtigen Apfelbaum in ihrer Nähe zu haben. |
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Eines Tages wachte der Apfelbaum auf, und das Holzgerüst drückte mächtig gegen seinen Stamm und auf seine Äste. Auch fingen die kritischen und traurigen Blicke der Buche an, ihm wehzutun und ihm mächtig auf die Nerven zu gehen. Da zog er sein schönstes Blütenkleid an, warf das Stützgerüst ab und hüpfte ein paar Meter weiter auf eine bunte Blumenwiese. Dort sprach er zur Erde: „Liebe Erde, bitte trage mich und verschlinge mich nicht.“ Dann sprach er zum Wind: „Lieber Wind, bitte blas mich nicht um.“ Dann sprach er zum Feuer: „Liebes Feuer, bitte verzehre mich nicht.“ Und zuletzt sprach er zum Himmel: „Lieber Himmel, bitte leuchte über mir.“ |
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Am nächsten Tag kam ein Vögelchen und ließ sich im Apfelbaum nieder. „Ich soll Dir Grüße von der Buche überbringen,“ zwitscherte das Vögelchen. „Auf der Wiese siehst Du noch schöner aus, und überhaupt seist Du der schönste Apfelbaum, den die Buche je gesehen hat.“ „Danke,“ sagte der Apfelbaum bescheiden. „Sag der Buche, dass ich mich sehr freue, von ihr zu hören.“ |
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